Studio Hildebrand

Mag.Art. Christoph Hildebrand

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TIME

GREGOR JANSEN
in Ruhrlights: TwilightZone
Duisburg 2010

(read english below)

Der Regattaturm am Baldeneysee ist ein eigenartiges architektonisches Gebilde. Es ist ein funktionalistischer Stahlskelettbau, der gestuft nach vorne auskragt, mit Monumentalität und Transparenz und rückseitiger außenliegender Wendeltreppe versehen. Bei den vielfältigen auf dem See ausgeübten Wassersportarten dient er den Kampfrichtern um über Siege und Niederlagen zu entscheiden. Diese einerseits eindrucksvolle Landmarke und andererseits schwierige Vorgabe regte den Licht- und Medienkünstler Christoph Hildebrand zu einer temporären Intervention aus Uhren an: 20 an der Zahl, größere und kleinere, platziert auf dem Dach in unterschiedlichen Höhen, in verschiedene Richtungen ausgerichtet und ebenso verschiedene Zeiten anzeigend. Bei genauerem Beobachten stellt man fest, daß die Uhren vom normalen Zeittempo entkoppelt, unterschiedlich schnell laufen und dabei fortwährend ihr Tempo ändern: der dahin schleichende Minutenzeiger einer Uhr dreht sich neben einem aufgeregt rotierenden Stundenzeigern einer benachbarten Uhr, um plötzlich in einer Aufholjagd das Tempo zu forcieren. Das ergibt zuerst alles keinen Sinn.

Immer wieder haben Künstler mit dem Thema Zeit und Uhren gearbeitet. Bei Salvador Dali flossen sie vor rund 50 Jahren beispielsweise dahin, bei Klaus Rinke gute 30 Jahre später takten sie die Zeit gleich in rigider Formation. Der Grund für die fortwährende Faszination für das Phänomen Zeit und Vergänglichkeit ist einfach und liegt auf der Hand, stellt die messbare Zeit doch einen überaus konkreten Beweis für unser Leben, das Vergehen desselben dar und speist darüber hinaus als omnipräsentes Macht- Moment ohne Möglichkeiten der Beeinflussung eine auch physische wie philosophische Diskussion. Zudem war die exakte Zeit ein konstituierendes Moment der modernen Industriegesellschaft: „Time is money“ und „Money makes the world go round“. Alles ist letztlich Zeit, oder über die Zeit definierbar da an Materie gebunden. Selbst Energie ist Masse mal Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat.

In Christoph Hildebrands Arbeit „Time“ für RuhrLights 2010 wird die Uhr in ihrer seriellen Häufung als analoge Rundscheibenuhr zu einem nur vermeintlich absurden Ensemble auf dem Dach des Regattaturmes. Die Uhr ist bei Christoph Hildebrand in seinem zivilisatorischen Mapping ein immer widerkehrendes Symbol, eines seiner „Top Ten Icons“, die er in vielfältigen Situationen und Installationen bereits einsetzte.

Angetrieben vom Wettbewerbsprinzip, in dem die Zeitmessung zwischen unterschiedlichen Wettstreitern eine Klassifizierung ermöglicht (wer ist die/der Schnellste?), dient der Regattaturm neben der Zuschauertribüne der exakten Zeitmessung bei der Überschreitung der Ziellinie. Diese Funktion bestimmt die Form des Baus. Die chaotische Ansammlung von unterschiedlich großen Uhren auf dem Wettkampf- bzw. Zeitmeßturm ist somit exakt gegen das weitreichende Prinzip darunter gerichtet. Alle Uhren zeigen eine unterschiedliche Zeit, die sich nicht auf die Weltzeitzonen bezieht. Alle Uhren laufen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, die sich fortwährend ändert. Dabei führen die Uhrzeiger eine kontinuierliche Bewegung aus im Sinne einer fließenden Zeit.

In „TIME“ sind die Uhren das Gegenstück zur Normaluhr. Jene zentral gesteuerten, normal laufenden Uhren mit ihren springenden Sekunden und Minutenzeigern, die nach einer amtlichen, für ganz Deutschland (und die Welt) verbindlichen Uhrzeit getaktet werden. Diese normierte Zeit erlaubt kein Ausweichen, läßt keinen Raum für Freiheit und Individualität. Pünktlichkeit ist erste Tugend. Die Normalzeit diktiert metaphorisch nicht nur den menschlichen Zeitablauf, sondern auch eine gesellschaftliche Konformität.

Christoph Hildebrand versteht die Uhren als Individuen, die nach ihrer eigenen, widernatürlichen Zeit gehen und dabei faszinierend und erschreckend zugleich ihrer eigenen Dramaturgie folgen. Die Möglichkeiten aktueller Steuerungstechniken erlauben ihm jedoch über den individuellen Zeitablauf der einzelnen Uhr hinaus auch eine gemeinsame konzertante Dramaturgie der Be- und Entschleunigung, bei der die Zeit auch einmal rückwärts gehen kann.

In dem Wechselspiel von ungewohnter, eigener Individualität eines auf Konformität und Präzision ausgerichteten vertrauten Objekts und der synchronisierten Choreographie wird einem schlagartig die überaus subjektive und oft so empfundene Wahrnehmung von Zeit anschaulich. Die Zeit hat regional, situativ, persönlich, religiös, medial und historisch zahlreiche Gesichter, Ausdrucksformen und Prägungen.

Zeit kann träge verrinnen wie bei einer langweiligen Arbeit, Zeit kann verdichtet erlebt werden, wie bei einer Familienfeier, Zeit kann rasen, wie bei einem Abgabetermin, Zeit kann sich in der Wahrnehmung dehnen, wie bei einem Autounfall und Zeit kann sich entschleunigen, wie bei einem Spaziergang in der Dämmerung am Baldeneysee. Im Laufe eines Tages und einer Stimmung ändert sich fortwährend das wahrgenommene Tempo und die wahrgenommene Zeit.

In der medialen Praxis werden signifikante Relationen der menschlichen Zeitwahrnehmung verändert und manipuliert, so daß wir „am Ball bleiben“, das heißt die Aufmerksamkeitsästhetik wird zeitlich unterschiedlich getaktet. Dies soll in Zeiten der Beschleunigung aller Lebensphänomene und unerhört praller Informationsdichte unser Zeitbewußtsein verbessern, um allgemein die Welt besser begreifen zu können: Die Ereignisse einer politischen Krise werden auf eine Stunde gerafft, das entscheidende Tor im Fußballspiel wird in Super-Slow-Motion gezeigt und dreimal wiederholt, bis der Zuschauer alle Details erfasst hat.

Es wäre schön und sinnstiftend, wenn dieses temporäre, vielschichtig assoziative Kunstwerk von Christoph Hildebrand ein permanentes werden könnte. Wenn nicht am Regattaturm, dann vielleicht an einem alten Fördergestell hier am Baldeneysee oder an einem passenden Ort auf Zeche Zollverein. Auch dort würde die Installation überaus Sinn machen, da an diesen Orten dieser Typus Uhr gebräuchlich war und jetzt ebendort die (alte) Zeit gewissermaßen still steht. Diese Orte sind ein beredtes Beispiel dafür, wie sich die Zeitläufe ändern, Ökonomien entstehen, vergehen oder sich transformieren: Das Ruhrtal, in dem der Regattaturm steht, war der Ausgangspunkt der industriellen Ausbeute der Kohlelager, jetzt ist es Naturreservat und Erholungsgebiet. „TIME“ stellt eben auch die Frage, die an der Ruhr eine zentrale ist: Wie wird die Ruhrmetropole in der Zukunft ticken?

 

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The regatta tower on Lake Baldeney is a peculiar architectural structure. It is a functionalist steel skeleton structure that juts out in steps towards the front, with monumentality and transparency and an external spiral staircase at the back. It is used by the judges to decide on victories and defeats in the many water sports practised on the lake. This impressive landmark on the one hand and a difficult task on the other inspired the light and media artist Christoph Hildebrand to create a temporary intervention of clocks: 20 in number, larger and smaller, placed on the roof at different heights, pointing in different directions and also showing different times. On closer observation, one notices that the clocks are decoupled from the normal pace of time, running at different speeds and constantly changing their tempo: the creeping minute hand of one clock turns next to the excitedly rotating hour hand of a neighbouring clock, only to suddenly accelerate its tempo in a race to catch up. At first, none of this makes sense.

Time and again, artists have worked with the theme of time and clocks. In Salvador Dali’s work, for example, they flowed about 50 years ago; in Klaus Rinke’s work, a good 30 years later, they clock time in the same rigid formation. The reason for the continuing fascination with the phenomenon of time and transience is simple and obvious, for measurable time represents an extremely concrete proof of our life, the passing of it, and furthermore, as an omnipresent moment of power without any possibility of influence, it feeds a discussion that is both physical and philosophical. Moreover, exact time was a constituent moment of modern industrial society: „Time is money“ and „Money makes the world go round“. Everything is ultimately time, or definable via time, since it is bound to matter. Even energy is mass times the speed of light squared.

In Christoph Hildebrand’s work „Time“ for RuhrLights 2010, the clock in its serial accumulation as an analogue round disc clock becomes an only supposedly absurd ensemble on the roof of the regatta tower. In Christoph Hildebrand’s mapping of civilisation, the clock is a recurring symbol, one of his „Top Ten Icons“, which he has already used in a variety of situations and installations.

Driven by the principle of competition, in which time measurement between different competitors enables classification (who is the fastest?), the regatta tower next to the spectators‘ stand serves to precisely time the crossing of the finish line. This function determines the shape of the structure. The chaotic collection of clocks of different sizes on the competition or time-measuring tower is thus exactly opposed to the far-reaching principle below. All clocks show a different time, which does not refer to the world time zones. All clocks run at different speeds, which change continuously. At the same time, the clock hands perform a continuous movement in the sense of a flowing time.

In „TIME“, the clocks are the counterpart to the standard clock. Those centrally controlled, normally running clocks with their jumping seconds and minute hands that are clocked according to an official time that is binding for all of Germany (and the world). This standardised time allows no evasion, leaves no room for freedom and individuality. Punctuality is the first virtue. Standard time metaphorically dictates not only the human passage of time, but also a social conformity.

Christoph Hildebrand understands the clocks as individuals that go according to their own unnatural time, following their own dramaturgy in a fascinating and frightening way at the same time. The possibilities of current control techniques, however, allow him to go beyond the individual passage of time of the individual clock to a common concert dramaturgy of acceleration and deceleration, in which time can also go backwards for once.

In the interplay between the unfamiliar, individuality of a familiar object oriented towards conformity and precision and the synchronised choreography, one suddenly becomes aware of the extremely subjective and often perceived perception of time. Time has numerous regional, situational, personal, religious, medial and historical faces, forms of expression and imprints.

Time can pass sluggishly, as in a boring job, time can be experienced condensed, as in a family celebration, time can race, as in a deadline, time can stretch in perception, as in a car accident, and time can decelerate, as in a walk at dusk by Lake Baldeney. In the course of a day and a mood, the perceived pace and the perceived time are constantly changing.

In der medialen Praxis werden signifikante Relationen der menschlichen Zeitwahrnehmung verändert und manipuliert, so daß wir „am Ball bleiben“, das heißt die Aufmerksamkeitsästhetik wird zeitlich unterschiedlich getaktet. Dies soll in Zeiten der Beschleunigung aller Lebensphänomene und unerhört praller Informationsdichte unser Zeitbewußtsein verbessern, um allgemein die Welt besser begreifen zu können: Die Ereignisse einer politischen Krise werden auf eine Stunde gerafft, das entscheidende Tor im Fußballspiel wird in Super-Slow-Motion gezeigt und dreimal wiederholt, bis der Zuschauer alle Details erfasst hat.

Es wäre schön und sinnstiftend, wenn dieses temporäre, vielschichtig assoziative Kunstwerk von Christoph Hildebrand ein permanentes werden könnte. Wenn nicht am Regattaturm, dann vielleicht an einem alten Fördergestell hier am Baldeneysee oder an einem passenden Ort auf Zeche Zollverein. Auch dort würde die Installation überaus Sinn machen, da an diesen Orten dieser Typus Uhr gebräuchlich war und jetzt ebendort die (alte) Zeit gewissermaßen still steht. Diese Orte sind ein beredtes Beispiel dafür, wie sich die Zeitläufe ändern, Ökonomien entstehen, vergehen oder sich transformieren: Das Ruhrtal, in dem der Regattaturm steht, war der Ausgangspunkt der industriellen Ausbeute der Kohlelager, jetzt ist es Naturreservat und Erholungsgebiet. „TIME“ stellt eben auch die Frage, die an der Ruhr eine zentrale ist: Wie wird die Ruhrmetropole in der Zukunft ticken?